Bestürzende Einblicke in die Mordaktionen im Rahmen des NS-„Euthanasie“- Programms haben 120 Teilnehmer einer Online-Veranstaltung des Vereins „Weilburg erinnert“ erhalten. Dr. Peter Sandner vom Hessischen Landesarchiv stellte seine profunden Kenntnisse der Krankenmorde im Bezirksverband Nassau in den Mittelpunkt, vor allem die Zustände in der NS-Zwischenanstalt Weilmünster, die zu über 3000 Morden an psychisch oder seelisch kranken oder körperlich behinderten Menschen bis 1945 führte. Der Titel seines Vortrages: „Nicht nur in Hadamar“.
Der erste Vorsitzende von „Weilburg erinnert“, Markus Huth, kann unter den Zuhörern auch die Landtagsabgeordneten Tobias Eckert (SPD) und Andreas Hofmeister (CDU) begrüßen sowie Weilmünsters Bürgermeister Mario Koschel und den Leiter der Gedenkstätte Hadamar, PD Dr. Jan Erik Schulte. Letztere danken dem Verein, der über die Förderung durch das Bundesprogramm „Demokratie leben“ seine Vortragsreihe wegen der Corona-Pandemie online fortsetzt.
Koschel betont in seinem Grußwort die besondere Verpflichtung des Klinikbetreibers Vitos und der Gemeinde Weilmünster, auch nach einem Umzug der Klinik ein Nachnutzungskonzept zum würdigen Gedenken an die NS-Opfer „gegen das Vergessen der NS-Gräueltaten“ zu entwickeln.
Vorstandsmitglied Martina Hartmann-Menz stellt den Referenten des Abends vor und würdigt Peter Sandners akribische Forschungsarbeit. Er hat bereits 2004, damals Mitarbeiter des Landeswohlfahrtsverbandes, wesentliche Ergebnisse in seinem Standardwerk „Verwaltung des Krankenmordes – Der Bezirksverband Nassau im Nationalsozialismus“ offengelegt und in zahlreichen Publikationen und historischen Schriftenreihen detailliert nachgewiesen, wie nicht nur Ärzte und Pflegekräfte, sondern auch Verwaltungsbeamte der Anstaltsträger skrupellos Strukturen für das Massensterben schafften. Sandner nennt dafür als Musterbeispiele die permanente Überbelegung der „Landesheilanstalt“ Weilmünster, von 350 Patienten 1936 auf über 1500 im
Jahresdurchschnitt bis 1939. Trotzdem Einsparungen überall, auf einen Arzt kommen bis zu 500 Kranke, die Sterberate steigt von 8% im Jahresdurchschnitt auf 37% im Jahr 1940, Hauptursache: Mangelernährung, hinzu kommen gezielte Tötungen durch Spritzen.
Mit Beginn des „T4-Programms“ im Oktober 1939 beginnen die schlimmsten „Euthanasie“verbrechen zur Vernichtung „unwerten Lebens“ im Sinne der Ideologie der Nationalsozialisten von der „Rassenhygiene“. Die Morde werden zum lukrativen Geschäft durch Pachtverträge mit der NS-Zentraldienststelle in der Tiergartenstraße 4 („T4“) in Berlin, Patienten dafür aus anderen Anstalten in Weilmünster regelrecht gesammelt.
„Graue Busse“ bringen bereits in der ersten Jahreshälfte 1941 über 2500 Patienten in die Gaskammer nach Hadamar, unter den ersten auch 89 jüdische Patienten. Von den am Ende 10 000 in Hadamar vergasten Menschen sind etwa 3000 aus Weilmünster. Nach dem Stopp der Gasmorde beginnen 1942 auch in Weilmünster die dezentralen Mordaktionen. Immer mehr Patiententransporte aus anderen Anstalten ab Juli 1942 führen zu unvorstellbar grausigen Szenen, besonders geschwächte Patienten werden wie Vieh behandelt.
Sandner berichtet von den minimalen Überlebenschancen, die Sterberate steigt auf fast 50% bis März 1945. Pfleger werden später in Verhören von einer regelrechten „Hungersnot“ sprechen. Ohne Beschäftigungsmöglichkeiten vegetieren die meist nur noch in Lumpen gekleideten Patienten in überfüllten Sälen auf durchfaulenden Betten vor sich hin, teils auch auf einfachen Strohaufschüttungen. Sie können sich nur selten notdürftig waschen, liegen häufig durch die Ruhr geschwächt in ihrem eigenen Kot, legen sich wund. Vergeblich ein mutiger Hirtenbrief des katholischen Anstaltsgeistlichen Walter Adlhoch im September 1943. Nur
einigen wenigen mutigen Angehörigen gelingt die Rettung Verwandter durch resolutes Auftreten vor den Ärzten.
Von täglich bis zu 30 Opfern durch nicht nur kriegsbedingte Mangelernährung berichtet der Patient Ernst Putzki in einem abgefangenen Brief an seine Mutter und beschreibt darin unfassbare Zustände. Sandner zeigt einen Videoausschnitt, wie der Schauspieler Sebastian Urbanski das Dokument im Bundestag bei einer Gedenkveranstaltung am 27.1.2017 vorliest: „Die Menschen werden zu Tieren und essen alles, was man eben von anderen kriegen kann, so auch rohe Kartoffeln…(sie) magern hier zum Skelett ab und sterben wie die Fliegen … Man beerdigt die hautüberzogenen Knochen ohne Sarg.“
Ärztliche Gutachter belegen nach Kriegsende mit dem Beginn einer Strafverfolgung Spuren tödlicher Medikamentendosen bei den Opfern, Zeugen berichten von der Verabreichung von Spritzen durch Hilfspfleger. Weitere Indizien für direkte Ermordungen sind der gezielte Einsatz von sieben „erfahrenen T4-Schwestern“ oder dass 15 Gehirne zu „Forschungszwecken“ an die Universität Heidelberg geschickt werden. Sandner findet und analysiert genügend Unterlagen, die den Schluss zulassen: In Weilmünster wurde wie in Hadamar misshandelt und ermordet. Trotzdem wird niemand zur Rechenschaft gezogen, laut Staatsanwaltschaft Frankfurt seien „Tötungen nicht zweifelsfrei feststellbar.“ Auch für den Direktor der Anstalt, Dr. Ernst Schneider, gibt es keinen Strafprozess, er wird ab 1953 juristisch nicht weiter belangt.
Seit 1991 erinnert in Weilmünster ein Denkmal an die Patientenmorde, Peter Sandner ist bei der Einweihung des Gedenksteins dabei, auf dem steht: „Das Schweigen ist durchbrochen. Wir gedenken der Opfer“. Auf dem Gedenkfriedhof der Anstalt stehen Informationstafeln, seit 1997 gibt es eine Ausstellung. In der Zukunft, sagt Sandner, sollte das Informationsangebot ausgebaut werden. Es sei wichtig, „eine angemessene Nutzung zu finden, die die Geschichte des Ortes erzählt, damit die NS-Verbrechen nicht in Vergessenheit geraten.“
Die Reaktionen der Teilnehmer am Online-Vortrag sind durchweg positiv, wie im Chat nachzulesen ist, zum Beispiel: „Vielen Dank für den berührenden Vortrag“ (Anke Beck). „Herzlichen Dank an Herrn Sandner und die Organisatoren für die sehr gelungene Veranstaltung!“ (Bernold Feuerstein). „Sehr gut konzipiert und umgesetzt. Wir haben viel mitgenommen!“ (Claudia Fischer). Markus Huth dankt allen Zuhörern für ihr Interesse und lädt zum Besuch des bewegenden Theaterstücks „Ännes letzte Reise“ am 27. Oktober in Weilburg ein, das die „Euthanasie“-Thematik eindrücklich vertiefe. Darüber sowie Näheres über geplante Zeitzeugengespräche und das umfangreiche weitere Jahresprogramm des Vereins finde man Informationen auf weilburg-erinnert.de. (jw)